Frustrationstoleranz bei deinem Hund sollte kein Trainingsziel sein – sie ist ein Beziehungsergebnis.

Veröffentlicht am 14. Juli 2025 um 17:42

Toleranz, Mitgefühl und Umang mit Frustreaktionen von Hunden

Die Frage, wie Hunde lernen, Frust auszuhalten, begegnet mir in letzter Zeit wieder häufiger.


In Diskussionen, Social-Media-Beiträgen und auch Anleitungsbüchern werden bestimmte Übungen vorgestellt, die jedoch leider das Gegenteil dessen bewirken, was Mensch und Hund eigentlich brauchen.

Für den Aufbau von Frustrationstoleranz brauchst du keine fiesen Übungen, in denen du etwas Attraktives direkt vor der Nase deines Hundes auslegst und er nicht dran darf.

Es mag vielleicht erstmal einleuchtend klingen: „Wenn mein Hund mit Frust konfrontiert wird und ihn aushalten muss, wird er irgendwann lernen, damit umzugehen.“ Aber das ist ein Denkfehler.

 

Ich habe hierzu bereits zwei Beiträge veröffentlicht:

🧠 Ein kurzes Gedankenhäppchen zur neurobiologischen Perspektive

📚 Und einen ausführlichen Artikel mit viel Hintergrundwissen und Tipps.

Heute greife ich das Thema nochmals auf, weil es so wichtig und aktuell ist. Diesmal mit einem Bild aus dem Alltag, in dem du dich gedanklich bestimmt wiederfinden kannst:


Du stehst im Stau. Es geht seit Minuten keinen Meter vorwärts. Du hast Durst, vielleicht musst du auch dringend auf die Toilette. Und du weißt genau, wenn der Stau noch länger dauert, verpasst du deinen Termin. Es ist unbequem, du bist müde und gereizt. Du willst einfach nur, dass es vorwärtsgeht.

Und trotzdem bleibst du ruhig. Vielleicht fluchst du leise oder knirschst mit den Zähnen. Aber du haust nicht aufs Lenkrad, schreist nicht laut rum oder fährst hupend auf den Seitenstreifen.

Warum? Weil du Strategien hast. Weil du gelernt hast, mit Frust umzugehen. Nicht perfekt, aber ausreichend. Du schaltest das Radio oder deine Lieblingsplaylist an. Du atmest bewusst. Du denkst dir: „Bringt ja eh nichts, sich aufzuregen.“ Vielleicht erinnerst du dich daran, wie du schon andere stressige Situationen überstanden hast. Und selbst wenn du innerlich kochst, du reißt dich irgendwie zusammen.

Nicht, weil du so gut darin bist, Frust einfach auszuhalten. Sondern weil du gelernt hast, wie du solche Situationen aktiv bewältigen kannst. Diese Erkenntnis geht im Alltag oft unter. Wir denken, wir ertragen Frust halt einfach so und verlangen das gleiche von unseren Hunden. Wir sollten uns aber ehrlicherweise bewusst machen, dass wir uns eine gut gefüllte Werkzeugkiste mit Bewältigungsstrategien zugelegt haben:

  • Du schaltest Musik oder deinen Lieblingspodcast ein.
  • Du kaust auf dem Müsliriegel, den du noch in deiner Tasche gefunden hast.
  • Du sagst dir: „Ich hab schon Schlimmeres geschafft.“
  • Du hältst dich zurück, weil du denkst: „Wie sähe das aus, wenn ich hier jetzt ausraste?“

 

Auch in Wartezimmern finden wir diese Strategien: Wir blättern in Zeitschriften, führen Smalltalk, scrollen durch Posts oder gehen innerlich nochmal die Fragen für den Termin durch.

All das ist Coping: der aktive Umgang mit belastenden Situationen. Diese Strategien haben wir uns über Jahre angeeignet. Wir halten Frust nicht einfach nur aus, wir steuern bewusst und unbewusst dagegen.

Und was macht dein Hund?


Langeweile, Warten oder gar Verzicht kann enorm frustrierend und stressend sein – nicht nur für Menschen. Aber dein Hund hat kein Smartphone, keinen Podcast, keinen Müsliriegel rumliegen, kein inneres Mantra „Das geht gleich vorbei“. Und keine innere Hemmung à la „Wie sähe das bitte aus, wenn ich hier jetzt ausraste?“

Wenn deinem Hund etwas zu viel wird und sein Stress-Eimer überläuft, dann bellt er wahrscheinlich, jault, springt an dir hoch, zerrt an der Leine oder beißt hinein. Das ist kein Trotzverhalten, sondern ein Zeichen von Überforderung. Dieser mentale Zustand wird ihm jedoch nicht dabei helfen, Frust zu ertragen. Im Gegenteil: Bei Stress und Überforderung nimmt die Fähigkeit zum souveränen Umgang mit Frustration ab.

Wenn Hunde Frustreaktionen zeigen, fühlen wir uns oft gestört. Dann entsteht schnell der Gedanke: „Der Hund muss jetzt gefälligst lernen, damit umzugehen.“ Aber worum geht es dabei eigentlich? Nicht um den Hund, nicht um sein Wohlbefinden oder darum, dass es ihm ohne das Frusterleben besser ginge.

Es geht um uns.

Wir wollen keinen Stress. Keine peinlichen Szenen. Kein Gekläffe an der Leine, kein Hochspringen, kein Jammern im Café. Unser Hund soll sich bitte unauffällig verhalten, kontrollierbar sein, vorzeigefähig. Er soll uns stolz machen, als Beweis dafür, dass wir „es im Griff haben“.

Machen wir mit Vögeln im Käfig oder Fischen im Aquarium Frustrationstraining, damit sie die Langeweile hinter Gittern oder Glasscheiben besser aushalten? Nein.

Warum nicht? Weil ihr Frust uns nicht betrifft. Er ist leise. Unsichtbar.

Der Frust unserer Hunde hingegen? Der stört. Also soll er bitte wegtrainiert werden.

Wir müssen uns auch mal Folgendes vor Augen führen: Hunde können sehr wohl mit Frustration umgehen – in ihrer eigenen Welt.


In der Natur, für die ihre evolutionären Programme über Millionen Jahre gemacht wurden, ist Frustration Teil des Alltags und gut reguliert:

  • Ein Beutetier entkommt? Dann wird eben neu zur Jagd angesetzt.
  • Ein Fortpflanzungspartner ist gerade nicht bereit? Dann wird weitergesucht.
  • Das lange Fixieren und Anschleichen vor dem Jagdsprint ist frustrierend, aber das biologische Programm sorgt für Impulskontrolle bis zum perfekten Moment, um loszurennen.

In ihrer natürlichen Umwelt haben Hunde gelernt, mit Frust funktional umzugehen.

 

Das Problem entsteht, weil sie in unserer Obhut leben. Die Menschenwelt ist voller Regeln, Grenzen, Leinen, Reize, Wartezeiten und Einschränkungen, die für Hunde gar keinen Sinn ergeben und für die sie auch keine Lösungsstrategien als „Werkseinstellung“ mitbekommen haben.

Wir könnten doch auch mal staunen und uns darüber freuen, dass Hunde so flexibel sind. Anstatt sie in künstliche Frust-Übungen zu locken, die mehr Stress als Nutzen bringen, sollten wir sie bei ihrer enormen Anpassungsleistung verständnisvoll unterstützen.

Wenn du deinen Hund immer wieder in überfordernde Situationen bringst, erlebt er nur immer wieder „Es ist zu viel“. Jegliche Emotionen – auch Frustration – werden automatisch in jeder Situation von deinem Hund mitverknüpft. Und irgendwann reicht schon ein kleiner Reiz als Vorbote, und die Situation eskaliert schneller.

Hunde lernen immer, egal, in welcher Situation.

👉 Frustrationstoleranz,

👉 Resilienz

👉 und auch Bindungssicherheit

lassen sich nicht antrainieren oder isoliert aufbauen. Sie entstehen nicht durch punktuelle Übungen, sondern durch wiederholte, sichere, alltagsnahe Erfahrungen, in denen dein Hund:

  • verlässliche soziale Unterstützung erlebt,
  • Hilfe zur emotionalen Regulation bekommt,
  • Vertrauen aufbauen kann in Bezug auf Vorhersehbarkeit und Fairness,
  • zeigen darf, wenn es ihm zu viel wird, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen,
  • und allmählich lernt, dass schwierige Momente überwindbar sind – mit dir an seiner Seite.

Mit solchen Erfahrungen kann dein Hund Bewältigungsmechanismen entwickeln. Diese sind viel wertvoller und vor allem gesünder, als wenn du bloß äußerlich einen funktionierenden Hund hast und es nur so scheint, als ob er die Belastung erträgt.


Vielleicht kommen dir die Beispiele mit dem Stau und den Wartezimmern bekannt vor und dir ist klar, wie sehr dir deine Strategien helfen, damit umzugehen. Dann kannst du gut nachvollziehen, wie hilflos sich dein Hund ohne diese Möglichkeiten fühlen muss.

Wenn du wissen möchtest, wie du deinem Hund in überfordernden Situationen helfen kannst, melde dich gerne und ich begleite euch auf diesem Weg. Nicht mit allgemeinen Tipps à la „Mache diese 5 Übungen und dein Hund kann mit Frust umgehen“, sondern individuell und auf euch zugeschnitten.

Im Coaching schauen wir gemeinsam:

 Was überfordert deinen Hund?

✅ Wo fehlen ihm noch Bewältigungsstrategien?

✅ Wie kannst du ihn unterstützen? Ohne Überforderung, aber auch ohne alles vermeiden zu müssen.

👉 Hier findest du mein Angebot zum Einzeltraining.

Vielleicht ist jetzt ein guter Moment, gemeinsam loszulegen. Ich freu mich auf euch!


🔎 Warum dieses Thema so grundlegend ist

Wie wir mit den Frustreaktionen unserer Hunde umgehen, zeigt im Kern ganz viel:

1. Es spiegelt Sichtweisen und innere Haltung

Nehmen wir Hunde als soziale Wesen mit Emotionen und artspezifischen Bedürfnissen ernst? Wollen wir sie in ihrem Verhalten und Erleben wirklich sehen oder nur, dass sie unseren Erwartungen entsprechen?

2. Es macht unser eigenes Unbehagen sichtbar

Frustverhalten beim Hund löst Stress, Scham und Überforderung in uns aus. Wie wir darauf reagieren, sagt viel über unseren eigenen Umgang mit Kontrollverlust.

3. Es unterscheidet Gehorsamkeitsdenken von Beziehung

„Frust soll wegtrainiert werden“ steht für Symptomunterdrückung statt Ursachenverstehen. Das Funktionieren rückt in den Vordergrund, nicht Wohlbefinden oder Bindung.

Ein Umdenken wäre ein echter Wendepunkt. Nicht nur für das Training, sondern für das gesamte Miteinander.