
Beim Anschauen des super interessanten YouTube-Videos „Die Geheimnisse erfolgreicher Projekte: Von Pixar bis SpaceX“ dachte ich: Hey, da sind ja ganz viele Parallelen!
Auch Verhaltensänderungen verlaufen nicht linear, sondern sind Teil komplexer Systeme.
Die Prinzipien, die Gert Scobel für erfolgreiche Projekte beschreibt, lassen sich erstaunlich gut auf die Arbeit mit Hunden übertragen:
1. Komplexität verstehen
2. Langsames Denken
3. Iteration
4. Außenblick durch Referenzen
Dieser Blogartikel will Verhaltenstraining natürlich nicht mit Projekten wie einem Brückenbau oder der Bauplanung eines Opernhauses gleichsetzen. Es ist aber total spannend, Kernelemente und zugrundeliegende Prinzipien aus anderen relevanten Themenbereichen kennenzulernen und zu entdecken, dass sie auch für den eigenen Bereich hilfreich und anwendbar sein können.
Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen und beim Beobachten, wie sich Theorie und Praxis verbinden! 😃🧠🐾
1. Komplexität – wenn man das Unvorhersehbare einbeziehen muss
Komplexe Systeme bestehen aus vielen miteinander verknüpften Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Im Gegensatz zu komplizierten Systemen lassen sich komplexe Systeme weder 100-prozentig berechnen noch absolut zuverlässig vorhersagen.
Schon eine kleine Veränderung kann weitreichende Folgen haben. Beispiele für solche nichtlinearen Netzwerkstrukturen mit unvorhersagbaren Effekten sind Börsenkurse, Epidemien – oder eben auch soziale Geflechte.
Hunde haben keine kulturell geprägten Glaubenssätze oder Rollenbilder wie wir Menschen, doch ihr Verhalten ist dennoch hochkomplex. Es entsteht dynamisch aus vielen interagierenden und wechselwirkenden Faktoren, wodurch sich unerwartete Verhaltensmuster zeigen können. Du kennst bestimmt auch diese „Das hat er ja noch nie gemacht“-Momente. 😃
Jedes Mal, wenn ihr mit der Umwelt interagiert, besonders außerhalb eurer vertrauten Settings, wirst du mit deinem Hund nicht nur bekannte Faktoren (Known Knowns) erleben.
Ihr begegnet auch dem, was im Video als Known Unknowns (mögliche Überraschungen) erklärt wird. Und du weißt nie, ob und wann Unknown Unknowns (unbekannte Überraschungen) auftauchen.
Die im Video dargestellte Fat-Tail-Verteilung zeigt, dass seltene Ereignisse in komplexen Situationen häufiger vorkommen, als man erwarten würde. Durch die vielen Unknowns, also die schlecht vorhersagbaren Faktoren, wird das Unwahrscheinliche eher wahrscheinlich.

Mit diesem Bewusstsein lassen sich Risiken besser einschätzen. Auch wenn bestimmte Dinge im Regelfall nur selten auftreten, sollte man sie in komplexen Systemen berücksichtigen.
Auf euren Gassirunden ist dir bestimmt auch schon mal die Frage begegnet „Können wir die spielen lassen?“ oft mit dem hinterhergeschobenen Hinweis „Meiner ist ganz lieb!“
Viele weitere Faktoren spielen jedoch eine Rolle:
- In welcher Umgebung befindet ihr euch: sicher oder in der Nähe einer Straße?
- Wie reagiert dein Hund auf den anderen Hund?
- Was für einen Eindruck macht der andere Hund? Temperament? Energielevel?
- Passen die Spielvorlieben? Raufen, Rennen, Maulfechten?
- Kann die andere Person die körpersprachlichen Stresssignale von Hunden richtig deuten oder ist sie eher der Typ „die machen das schon unter sich aus“?
- Wie bist du selbst heute drauf?
All diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und erzeugen Rückkopplungen, die wiederum neue Dynamiken auslösen und zu unvorhersagbaren Reaktionen führen können. Diese Wechselwirkungen sind typisch für Komplexität und können emergente (unerwartete) Verhaltensmuster hervorbringen.
Du kennst bestimmt auch die Situation, in der du ein Rufen aus der Ferne hörst „Der tuuut nix!!“ Und im selben Moment siehst du, wie ein freilaufender Hund direkt auf dich und deinen Hund zugeschossen kommt. 😉
Diese typischen Begegnungen im Alltag zeigen sehr schön, dass Menschen oft unterschätzen, wie viele Einflüsse gleichzeitig wirken. Und dass der Verlauf einer Situation eben nicht nur davon abhängt, was der eigene Hund tut oder nicht tut.
Übrigens, mit „der tut nix“ will man eigentlich sagen, dass der Hund nicht beißt. Denn irgendwas „tun“ wird er wohl. Er kann ja nicht nichts tun. Und dass sich das Nähern eines unbekannten Hundes für manche Vier- und Zweibeiner bereits bedrohlich und stressend anfühlen kann, ist leider nicht jedem bewusst.
2. Die Entscheidungsfalle – langsames Denken ist der Schlüssel
Im Video wird beschrieben, dass schnelle Entscheidungen in komplexen Situationen häufig in die Irre führen. Wir Menschen neigen dazu, auf Autopilot zu reagieren, das sogenannte „schnelle Denken“.
Komplexe Systeme jedoch belohnen selten impulsives Handeln. Stattdessen brauchen sie langsames Denken, also bewusste, reflektierte Entscheidungen.
Im Training mit Hunden heißt das: innehalten, beobachten, bewerten. So verhindern wir, in die Falle des schnellen Denkens zu tappen. Etwa nach dem Motto: „Es hat geklappt, also können wir direkt zur nächsten Schwierigkeitsstufe übergehen.“
Man benötigt jedoch ein stabiles Fundament, auf dem weitere Trainingsschritte aufbauen können. Wer zu schnell vorgeht, riskiert, dass das Verhalten irgendwann zusammenbricht, weil die Basis nicht gefestigt war.
Beim Üben von Signalen – z.B. das „HIER“ für euren Rückruf – ist es wichtig, dass du bereits im Training diverse Ablenkungen einbeziehst und mit deinem Hund an verschiedenen Orten übst. So kann er das Gelernte generalisieren und auf verschiedene Situationen übertragen. Wenn euer Rückruf zuhause im Garten klappt, bedeutet das nicht, dass er automatisch auch im Wald funktioniert.
Aber woran erkennst du, dass dein Hund bereit ist für die nächste Schwierigkeitsstufe?
Eine praktische Eselsbrücke ist das bewährte PENG-Prinzip.
- P – Dein Hund reagiert prompt auf dein Signal
- E – Die Erfolgsrate stimmt: mindestens 80% (z.B. 4 von 5 Wiederholungen gelingen)
- N – Dein Hund führt die Übung mit der nötigen Geschwindigkeit aus
- G – Du siehst Genauigkeit in der Ausführung: das Verhalten entspricht deiner Trainingsabsicht
Auch in Begegnungssituationen hilft langsames Denken. Ein kurzer Check kann verhindern, dass du unüberlegt handelst:
- Zeigt dein Hund Entspannungs- oder Stresssignale?
- Wie reagiert die Bezugsperson des anderen Hundes: aufmerksam, ruhig, kooperativ?
- Wie viele Begegnungen hattet ihr schon auf dieser Runde – wie viel Impulskontrolle hat dein Hund noch übrig?
So trainierst du nicht nur deinen Hund, sondern auch dich selbst: langsamer zu denken, bewusster zu handeln und dadurch bessere Entscheidungen zu treffen.
Manchmal ist ein kleiner Umweg die klügere Strategie als zu hoffen, dass es schon irgendwie gutgehen wird.
3. Das Pixar-Vorbild – Perfektion durch Iteration
Pixar entwickelt seine Filme nicht allein durch geniale Ideen, sondern durch ständiges Ausprobieren, Anpassen und Verbessern. Kritisches Feedback ist dabei ein wichtiger Teil des Prozesses. Dieses Prinzip wird als Iteration bezeichnet.
Im Hundetraining funktioniert es genauso. Ein Trainingsplan ist kein starres Rezept, sondern ein Prototyp, der sich im Laufe des Trainings ständig weiterentwickelt. Jede Einheit ist ein kleines Experiment, aus dem du lernst, was funktioniert und was (noch) nicht.
Fortschritt entsteht aus kontinuierlichen Feedback-Schleifen:
Planung > Umsetzung > Auswertung > Plananpassung… und eine neue Schleife beginnt.

Bei der Auswertung könntest du z.B. folgende Faktoren berücksichtigen:
- Abstand und Intensität des Auslösers
- zu viel Ablenkung durch Umweltreize?
- Anzahl der Wiederholungen (Reizüberflutung? Nachlassende Impulskontrolle? Stresseimer ist kurz vorm Überlaufen?)
- das Timing deines Lobwortes zur Ankündigung der Belohnung (Markersignal)
- Attraktivität der Belohnung (Findet wirklich eine Verstärkung statt?)
- der Belohnungspunkt (Wo hat die Verstärkung den besten Impact? Direkt neben dir? Weg vom Auslöser? etc.)
- deine Leinenhandling-Skills (auch an der Schleppleine vorhanden?)
- Achtsamkeit (Wie sieht das Gangbild deines Hundes aus? Verhält er sich anders? Stichwort: Schmerzen)
- und noch sehr viele weitere, individuelle Faktoren.
Ich finde, dieser positive Leitsatz passt sehr schön zum Thema Iteration:
„Lief es gut heute oder habe ich etwas gelernt?“
Jede Trainingseinheit ist entweder ein Fortschritt oder eine Erkenntnis, nie eine Niederlage.
4. Außenblick statt Innenblick – warum unsere Situation oft weniger einzigartig ist als wir denken
Ein weiterer Aspekt in dem Video ist die Referenzklasse, also der Blick nach außen. Menschen neigen dazu, ihre eigene Situation als besonders und einzigartig zu betrachten und glauben, dass allgemeine Gesetzmäßigkeiten oder Erkenntnisse auf sie nicht zutreffen.
Dieses Denkmuster nennt man Uniqueness Bias, eine Form der kognitiven Verzerrung.
In der Projektplanung führt dieser Bias dazu, dass Risiken unterschätzt werden, weil man glaubt „Bei uns ist alles anders. Wir können das besser, schneller, mit kürzerer Vorbereitung und weniger Planung.“
Dieser Innenblick kann dazu führen, dass man Muster übersieht, Erkenntnisse aus vergleichbaren Fällen nicht berücksichtigt oder sogar evidenzbasierte Fakten ablehnt.
Auch im Training mit unseren Hunden hilft der Außenblick:
- Welche Trainingsansätze haben bei vergleichbaren Herausforderungen funktioniert?
- Wie lange dauern typische Lernprozesse in ähnlichen Situationen?
- Welche Fehler treten bei ähnlichen Trainings häufig auf?
Indem du deine eigene Erfahrung in eine Referenzklasse einordnest, also vergleichst statt isolierst, lernst du realistischer zu planen und fundiertere Entscheidungen zu treffen. Durch den Außenblick (z.B. wissenschaftliche Studien, Fachliteratur, Seminare, Kurse, Erfahrungen anderer) vermeidest du typische Denkfallen des Innenblicks.
Ja, unsere Hunde sind besonders und einzigartig, aber nicht außerhalb der Lerngesetze. 😉
Zum Schluss nochmal die wichtigsten Punkte im Überblick:
1. Komplexität verstehen:
Hundeverhalten ist komplex und nicht 100-prozentig vorhersehbar, aber Planung ist trotzdem möglich. „Failing to plan is planning to fail.“
2. Rückschritte sind normal und lehrreich:
Lernplateaus und Rückschritte gehören zum Prozess. Langsames Denken ermöglicht Reflexion und führt zu fundierten Entscheidungen. Jeder Trainingsschritt ist entweder ein Fortschritt oder eine Erkenntnis.
3. Iteration statt Perfektion:
Anpassungsfähigkeit ist der Schlüssel. Offen bleiben für Feedback und Lernschritte flexibel an die jeweilige Situation anpassen. So entsteht kontinuierliche Verbesserung.
4. Außenblick statt Innenblick:
Vorsicht vor dem Uniqueness Bias. Es klingt zunächst paradox, da jeder von uns – und natürlich auch unsere Hunde – einzigartig ist. Aber auch für uns gelten Prinzipien aus z.B. Psychologie, Verhaltensbiologie und Lerngesetzen.
5. Modularität führt sicherer zum Ziel:
Das Trainingsziel kann groß sein, die Schritte dorthin sollten klein bleiben. Andere Bereiche abchecken, die Einfluss auf Verhalten haben. Stichwort: körperliches und emotionales Wohlbefinden! Gesundheit, Ernährung, Schlafqualität, Entspannungszeiten, etc.
Video:
Gert Scobel: „Die Geheimnisse erfolgreicher Projekte: Von Pixar bis SpaceX“
https://www.youtube.com/watch?v=4uNmX7W8u5I
Literatur:
- How Big Things Get Done: Wie Projekte gelingen – von der Küchenrenovierung bis zur Marsmission. Autoren: Bent Flyvbjerg & Dan Gardner
- Schnelles Denken, langsames Denken. Autor: Daniel Kahneman