Was hat mein Hund davon? – Ein Plädoyer für Beobachtung und Empathie

Veröffentlicht am 31. Mai 2025 um 20:24

Furry Fellows_Verhalten ist Kommunikation_auf individuelle Bedürfnisse bei Hunden achten

Neulich auf unserem Spaziergang im Park drehte eine Frau auf ihrem Fahrrad ein paar Runden, neben ihr ein hechelnder Langhaarcollie mit raushängender Zunge. Es war 13 Uhr, wir hatten 25 Grad und strahlenden Sonnenschein.

Auf meine Frage, ob es für den Hund nicht zu warm sei, rief sie als Antwort im Vorbeiradeln „Der ist ein Treiber!“

Diese Begründung hat mich ziemlich irritiert. Mir ist klar, dass Menschen solche Dinge nicht mit böser Absicht tun. Im Gegenteil, in der Antwort dieser Frau schwang ein sehr überzeugtes „Ich weiß, was ich tue“ mit.

Das hat mich den ganzen Nachmittag gedanklich beschäftigt. Wie kann man einen langhaarigen Hund in der Mittagssonne über aufgeheiztem Asphalt am Fahrrad führen und nicht sehen, dass er völlig fertig ist? Liegt es am fehlenden Wissen über Thermoregulation bei Hunden? Oder an gut gemeinten, aber einseitigen Ratschlägen von Züchtern, Foren und Posts?


Die Idee vom richtigen Hundeverhalten


Es gibt so viele festgefahrene Vorstellungen darüber, was ein Hund braucht. Wie viel Bewegung, wie viel Beschäftigung, wie viel Ruhe.
Oft orientieren sich Menschen dabei an Rassebeschreibungen, an Meinungen von anderen und leider viel zu selten am Hund selbst.

Ein Border Collie braucht Hundesport, ein Husky will ziehen, ein Golden Retriever ist immer freundlich. Und irgendwo dazwischen befindet sich ein individueller Hund. Mit eigener Persönlichkeit, Vorlieben und situationsabhängigen Bedürfnissen. Die erkennt man kaum, wenn der Hund schon ein bestimmtes Label erhalten hat.

Hunde sind Individuen mit eigener Persönlichkeit, jenseits von Rassebeschreibungen.

Rassebeschreibungen sind keine Gebrauchsanleitungen. Sie geben uns lediglich Hinweise und Wahrscheinlichkeiten. Natürlich gibt es genetische Prädispositionen, sowohl körperliche, mentale als auch verhaltensbezogene. Aber sie erklären nicht den jeweiligen Hund vor uns.

Die Frau mit dem Collie hat es sicherlich gut gemeint. Sie ging davon aus, dass der ursprüngliche Job dieser Rasse aus Laufen besteht. Vielleicht hat ihr auch jemand erzählt, dass ihr Hund vor allem viel rennen muss. Dass das Hüten und Treiben von Weidetieren eine kognitive Hochleistung ist und ihr Hund gerne auch mental beschäftigt wird, ist ihr wahrscheinlich nicht bewusst.

Selbst bei kühleren Temperaturen ist das Laufen am Fahrrad für die wenigsten Hunde wirklich artgerecht. Die meisten Menschen sind zu schnell unterwegs, wodurch Hunde großen Stress erfahren. Neben dieser Belastung können sie nicht ihren Bedürfnissen wie Schnüffeln und Umwelterkundung nachgehen und nicht einfach stoppen, um ihre Geschäfte zu erledigen.


Den Hund wirklich sehen und Empathie zulassen


Was ich beim Beobachten von Mensch-Hund-Teams oft vermisse, ist die Rückverbindung zum eigenen Empfinden.

Gerade weil unsere Hunde uns so viel bedeuten, lohnt sich der Blick jenseits von Labels und allgemeinen Behauptungen. Je besser und ehrlicher wir uns selbst verstehen, desto klarer sehen wir auch die Ähnlichkeiten mit unseren Hunden.

Wenn ich spüre, wie träge mein Kreislauf bei Hitze wird, kann ich dann wirklich glauben, dass mein Hund das Laufen am Fahrrad als schöne Beschäftigung empfindet?

Wenn ich selbst bei Druck mental blockiere, dann kann ich doch verstehen, dass mein Hund bei Korrekturen nicht stur, sondern schlicht überfordert ist?


Das Problem mit Rasse-Etiketten und Schubladen


Wie weitreichend das Schubladendenken gehen kann, ist teilweise kaum zu glauben.

Es gibt wirklich Influencer, die behaupten, dass eine Angstdiagnose bei einem Rottweiler ein Widerspruch in sich wäre, weil Rottweiler angeblich keine Angst hätten.

Angst hat jedoch nichts mit Rassen zu tun, sie ist für jedes Lebewesen wichtig. Sie warnt uns vor Gefahr und sorgt dafür, dass wir nach einem sicheren Umfeld suchen. Emotionen haben eine Funktion – auch solche, die als unangenehm und belastend empfunden werden. Sie sind der Motor für Verhalten und möchten uns mitteilen, dass etwas nicht stimmt und was wir gerade brauchen.

Nicht das Verhalten ist das Problem. Das Verhalten zeigt das Problem.

Dieser Satz öffnet Türen zu mehr Verständnis und Mitgefühl. Und das nicht nur bei Hunden, sondern bei unseren Bekannten, bei unserem Partner, bei Kindern – und bei uns selbst.


Hunde in unserer Obhut


Das aggressive Verhalten des Rottweilers in diesem Beispiel wurde durch Strafe weggedrückt. Strafe nimmt jedoch die ursächliche Emotion und das dahinterliegende Bedürfnis nicht weg.

Zeigt ein Hund aggressives Verhalten, hört man schnell die Aussage, dass dieser Hund nicht erzogen sei und nicht weiß, was sich gehört. Solche Sätze klingen sehr vertraut. Viele von uns kennen sie noch aus der eigenen Kindheit.

Erst seit dem Jahr 2000 haben Kinder in Deutschland mit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ das Recht auf einen gewaltfreien Umgang. Und dass der kleine Klaps auf dem Po und psychischer Druck auch unter Gewalt fallen, ist bis heute nicht bei jedem angekommen. Bedürfnisorientierte Kindererziehung wird leider sehr oft gleichgesetzt mit anti-autoritärer Pippi-Langstrumpf-Erziehung. Veränderungen und Wandel brauchen Zeit.

Wir tragen so viele Glaubenssätze, Rollenbilder und Schablonen mit gesellschaftlichen Erwartungen in uns, dass es vielen schwer fällt, ihren Familienhund als ein Wesen zu betrachten, das NICHTS MUSS. Nichts sein muss, nichts erfüllen muss, nichts leisten muss und keinen Anforderungen entsprechen muss.

Unsere Hunde haben sich das Leben mit uns nicht ausgesucht. Sie bekommen eine Rolle übergestülpt, die wir für sie ausgedacht haben. Dabei sind sie komplett von uns abhängig, können nicht abwandern oder weiterziehen, wenn ihnen das Leben in der verrückten Menschenwelt nicht gefällt.  

Wenn sie mit dieser enormen Anpassungsleistung manchmal Schwierigkeiten haben, ist es unsere Verantwortung, ihnen dabei zu helfen.


Verhalten ist Kommunikation. Hören wir zu?


Wenn du beobachtest, übernimmst du Verantwortung.

Statt zum Beispiel allgemeinen Tipps wie „Kauen und Schlecken wirkt beruhigend auf Hunde“ blind zu folgen, beobachte deinen Hund, ob es für ihn auch wirklich so ist. Verhalten erzählt viel, wir müssen es nur sehen. Ein Kauknochen kann auch Frust und Stress auslösen, etwa wenn der Hund schlicht Hunger hat und schnelle Nahrung braucht.

Möchte ein Hund vielleicht nicht in eine bestimmte Richtung gehen? Er hat seinen Rücken gekrümmt, seine Rute eingeklemmt und seine Ohren nach hinten gedreht? Auch wenn wir gar nichts Ungewöhnliches in der Umgebung bemerken, fühlt dieser Hund für sich ganz real eine Bedrohung.

Hunde faken nicht und tun nicht als ob. Sie können beispielsweise Pheromone von anderen Hunden wahrnehmen, die sich geängstigt fühlen. Hängen diese Moleküle noch in der Luft, sagt das Alarmsystem „Wenn sich hier andere Hunde gefürchtet haben, dann ist diese Gegend für mich auch nicht sicher.“


Kritisches Denken


Ich überlege die ganze Zeit, was ich anstatt meines Hinweises auf die hohen Temperaturen zu der Frau auf dem Fahrrad hätte sagen können, um bei ihr keinen Widerstand auszulösen.

Kritik am eigenen Umgang mit dem Hund löst etwas aus. Psychologen nennen das kognitive Dissonanz1: Ein innerer Konflikt entsteht, weil wir fest davon überzeugt sind, das Richtige für unseren Hund zu tun und zugleich jemand von außen eine andere Meinung äußert.

Widerstand und Abwehrhaltung zu zeigen ist also völlig nachvollziehbar. Was hatte ich auch erwartet – dass sie einsichtig vom Fahrrad steigt?

Love is a verb. Love is a doing word. Zu seinem Hund stehen, Social Support geben und ihn beschützen.

Wir lieben unseren Hund, wir wollen ihm nichts Schlechtes und achten darauf, dass es im gut geht. Deswegen wirkt es für uns oft völlig undenkbar, dass wir Dinge tun könnten, die ihm nicht gefallen oder ihn überfordern.

Wie reagierst du auf konstruktive Kritik? Kannst du im Nachhinein vielleicht noch einmal über dein Handeln nachdenken, auch wenn du eigentlich gut informiert bist?

Oder traust du dich, im Verein zu fragen, ob es wirklich sein muss, dass dein Hund beim Fußlaufen nur links geht und die ganze Zeit seinen Kopf verdrehen muss, um zu dir hochzuschauen? Und ob es im Sportbereich fair ist, dass er sich nach dem Wasser-Apport nicht sofort schütteln darf, nur weil es bei der Jagdarbeit mit echter Beute so vorgeschrieben ist? Bei eurem gemeinsamen Hobby, wo es um Spaß und Teamarbeit geht, soll er ein so wichtiges Bedürfnis unterdrücken?

Dies sind nur Beispiele für Regeln und Traditionen, die man schnell einfach mal so übernimmt, obwohl sie sehr oft gar keinen Sinn mehr machen. Und ein „Weil man das halt so macht“ ist doch keine Begründung.

Ich persönlich habe eine Allergie gegen Traditionen entwickelt. Besonders wenn wir sie im Zusammenhang mit Tieren betrachten, haben Traditionen ihnen immer mehr geschadet als geholfen. Es gibt da einen sehr schönen Spruch, dessen Verfasser mir leider unbekannt ist: „Forget tradition. It’s peer pressure from dead people.“

Anstatt sich an reinen Meinungen und Behauptungen zu orientieren, können dir genaues Hinschauen und folgende Fragen wirklich weiterhelfen:

  • Was hat mein Hund davon – in dieser Situation und in diesem Kontext?
  • Was GENAU lernt er mit dieser bestimmten Übung und wie verknüpft er MICH dabei? – Als einen verlässlichen, vorhersehbaren und unterstützenden Bindungspartner?

🔎 Info: 1Kognitive Dissonanz

Die Abwehr von der Frau auf dem Fahrrad war nicht gegen mich gerichtet – auch wenn es sich im ersten Moment so anfühlte – sondern gegen die kognitive Dissonanz.

Dabei handelt es sich um einen inneren Konflikt, der vor allem dann entsteht, wenn an unserem Selbstbild gekratzt wird und unsere Werte oder moralische Überzeugungen infrage gestellt werden.

Ein neutraler Hinweis darauf, dass ihre Schnürsenkel offen sind, hätte bei der Frau wahrscheinlich ein freundliches „Danke“ ausgelöst, statt einer Verteidigungs- oder Abwehrhaltung.

Kognitive Dissonanz fühlt sich unangenehm an, und man möchte sie so schnell wie möglich loswerden. Dies geschieht auf zwei Wegen:

Entweder man ändert sein Verhalten – oder man passt seine Gedanken so an, dass der Widerspruch verschwindet. Zum Beispiel: „Mein Hund findet das nicht schlimm. Und sooo warm ist es doch auch gar nicht.“

  • Wenn du überzeugt bist, dass du aus einer respektvollen, informierten Haltung heraus handelst und jemand bringt eine haltlose Kritik vor, dann spürst du Irritation, vielleicht auch Wut oder Enttäuschung, weil du dich nicht verstanden fühlst. Aber es entsteht keine Dissonanz, denn die Kritik trifft keinen inneren Reibungspunkt.
  • Anders ist es, wenn dir jemand etwas vorwirft und du innerlich spürst, dass ein Fünkchen Wahrheit dran sein könnte, auch wenn du es nicht klar benennen kannst. Dann entsteht eine unangenehme Spannung mit dem Bedürfnis, dich zu rechtfertigen, zu verteidigen, die Situation zu verharmlosen oder vom Thema abzulenken. Das ist kognitive Dissonanz. Ganz oft ist diese Spannung das Unangenehme und weniger die Kritik selbst.

Kognitive Dissonanz kann zu einer Kalibrierung des inneren Werte-Kompasses führen, wenn man sie nicht wegdrückt, sondern sich ihr ehrlich stellt. Selbstreflexion ist hier das Stichwort.

💡 Vielleicht vermiest dir eine unsachliche oder beleidigende Reaktion auf einen Post jetzt nicht mehr den Tag.

Es könnte sein, dass eine kognitive Dissonanz im Spiel war und sich trotz aller Abwehr ein neuer Gedankensamen eingenistet hat.

Und wer weiß – vielleicht wächst er ja. 🎯🪴👩‍🌾