Kleine Gedanken-Snacks für zwischendurch. Diesmal: Dominanz? ...oder doch was anderes?

Hast du schon mal zwei Hunde beobachtet, die zusammenleben? Und vielleicht gedacht: „Der eine ist aber ganz schön dominant!“
Verständlich – dieser Begriff geistert immer noch durch viele Hundehaushalte. Aber was steckt wirklich dahinter?
Das Verhalten, das wir da sehen, ist kein „Ich bin der Chef“-Schauspiel. Es geht um etwas viel Alltäglicheres, nämlich um Ressourcen. Also Dinge, die für Hunde wertvoll sind: Futter, Ruheplätze, Spielzeug, Aufmerksamkeit vom Menschen.
Wissenschaftlich spricht man vom Resource Holding Potential (RHP). Klingt erstmal sperrig – bedeutet aber einfach: Der Hund, der besser in der Lage ist, eine Ressource zu behaupten, bekommt sie häufiger. Der andere lernt im Laufe der Zeit: „Ich ziehe sowieso den Kürzeren, also überlasse ich ihm gleich das Spielzeug.“ Kein Drama, keine Rangordnung – einfach ein ganz normaler Lernprozess.
Wenn wir also sagen: „Der ist dominant“, beobachten wir in Wirklichkeit nur ein eingeübtes Verhaltensmuster rund um Ressourcenverteilung. Kein Machtspiel, kein Alphatier.
Sozialstrukturen unter Hunden werden nicht durch Rang- und Statuskämpfe beeinflusst, sondern durch situative Bewertungen von Ressourcen und Lernerfahrungen.
Dass es dabei wirklich nur um Ressourcen geht und nicht um eine Art Statusdemonstration, zeigt sich auch daran: Wenn etwas Attraktiveres auftaucht – ein neuer Ball, ein interessanterer Kauknochen, ein gemütlicheres Kissen – wird die vorher verteidigte Ressource oft sofort liegengelassen.
Der als dominant bezeichnete Hund ist dann plötzlich ganz woanders, weil es ihm nicht um Macht geht, sondern um den aktuellen Wert der Ressource.
👉 Zeit, mit dem Dominanz-Mythos aufzuräumen!
Schiebe den Dominanzgedanken beiseite und beobachte das Verhalten deines Hundes oder deiner Hunde mit dem neuen Wissen.
Wenn du verstehst, was da wirklich passiert, kannst du Hundebeziehungen viel besser einschätzen und vor allem fairer begleiten.
🔎 Literatur:
Bradshaw et al. (2009): Dominance in domestic dogs – useful construct or bad habit?
Über diesen Link kannst du eine Kopie direkt beim Autor anfragen:
Die Autoren dieser Studie hinterfragen die klassische Vorstellung von Dominanzhierarchien bei Hunden und plädieren für ein Umdenken in der Interpretation sozialer Interaktionen. Sie diskutieren alternative Modelle wie das RHP-Modell (Resource Holding Potential), das ursprünglich auf Wildtiere angewendet wurde.
Zwar berücksichtigt dieses Modell nicht die sozial komplexen Strukturen und die individuellen Lernprozesse, die durch den hochvariablen, vom Menschen geprägten Lebensraum von Haushunden entstehen. Dennoch bietet es mit dem Konzept des subjektiven Wertes einer Ressource (V) eine differenziertere Erklärung für agonistisches1 Verhalten als das traditionelle Dominanzkonzept.
1 Agonistisches Verhalten beschreibt das gesamte Verhaltensrepertoire von Tieren in sozialen Konfliktsituationen, einschließlich aggressiver, drohender, vermeidender und deeskalierender Reaktionen.
Dr. Barbara Schöning (2006). Evaluation and prediction of agonistic behaviour in the domestic dog. Dissertation, University of Bristol.
Auf dieser Seite befindet sich der Link zum vollständigen PDF: https://research-information.bris.ac.uk/en/studentTheses/evaluation-and-prediction-of-agonistic-behaviour-in-the-domestic-
Die Autorin bringt es prägnant auf den Punkt:
“Hardly any other behavioural term is as much misused in the lay literature on dogs than the term dominance. […] Human behaviour (trying to gain rank through pressure and fighting) may be one important reason why dogs bite their owners, as science gives a different picture of how wolves and dogs organize their social group and build up a hierarchy.”
MSD Vet Manual (2024) – Kapitel „Social Behavior of Dogs“
Auf dieser Website findest du viele wertvolle und fundierte Informationen. Auch hier wird angemerkt, dass traditionelle Dominanzbegriffe oft fehlinterpretiert werden. Stattdessen definieren sich Statusbeziehungen durch den Wert von Ressourcen und der Lerngeschichte in konkreten Situationen.
Vet Help Direct (2020) – „Fact vs Myth: Dominance Theory in Dogs“
https://vethelpdirect.com/vetblog/2020/07/21/fact-vs-myth-dominance-theory-in-dogs/
Eine sehr lesenswerte und differenzierte Betrachtung des Dominanzbegriffs in der Hundeverhaltensforschung. Die Autorin bezieht sich unter anderem auf die Studie von Bradshaw et al. (2009) und erklärt deren Inhalte in zugänglicher Sprache.