Maulkorbträger, Vorurteile und Aggression bei Hunden

Veröffentlicht am 9. April 2024 um 20:16

Warst du schon einmal in folgender Situation?

Du gehst einen Weg entlang und dir kommt eine Person mit einem angeleinten Hund entgegen. Dieser Hund trägt Maulkorb. Je nach Größe und Rasse des Hundes breitet sich sofort ein ungutes Gefühl in deinem Bauch aus und du möchtest am liebsten die Straßenseite wechseln.

Furry Fellows_Hunde mit Maulkorb und Vorurteile

Diese erste Reaktion ist sehr verständlich. So ein Maulkorb sichert schließlich das starke und scharfe Gebiss eines Beutegreifers, der, so scheint es, seine Zähne bereits mit Beschädigungsabsicht eingesetzt hat.

Aber ist das wirklich immer der Fall?

In diesem Beitrag wollen wir den Maulkorb, seine Einsatzzwecke und sein Image ein wenig genauer beleuchten.

Du erfährst Hintergrundwissen zum Thema Aggression und wirst nach dem Lesen dieses Artikels Hunde, die aggressives Verhalten zeigen, vielleicht in einem anderen Licht sehen.

Uns Menschen fällt es meistens schwer, ohne Vorurteile und vorgefasste Bewertungen offen mit neuen Situationen umzugehen. Fremdes und Ungewohntes betrachten wir erstmal skeptisch.

Wenn du vorher noch nicht mit Maulkörben zu tun hattest, wird dir beim Anblick eines bekorbten Vierbeiners wahrscheinlich etwas mulmig. Vielleicht schießen dir ungewollt auch ein paar Vorurteile gegenüber dem Hund und der Bezugsperson durch den Kopf.

Aber anstatt zu denken, dass der entgegenkommende Hund bestimmt böse ist oder dass die Bezugsperson irgendwas in der Erziehung falsch gemacht hat, könnten wir in solchen Momenten bewusst umdenken und dadurch einen ganz anderen Blick auf die Situation ermöglichen.

Wir könnten das Mensch-Hund-Team freundlich grüßen und fragen, ob das Passieren so o.k. ist oder ob die beiden mehr Abstand brauchen. Mit so einer netten Frage kommt man auch gleich ein bisschen ins Gespräch und erfährt vielleicht Folgendes:

  • Wir üben für unseren Wanderurlaub in Österreich. Auf manchen Wegabschnitten werden wir auch immer mal wieder eine Gondel benutzen.
  • Wir üben für unsere Bahnfahrten. Wir sind umgezogen und haben jetzt tolle Verbindungen mit den Öffis. Da brauchen wir das Auto kaum noch.
  • Wir haben einen neuen Tierarzt. Bei bestimmten Behandlungen benutzt die Praxis eine Maulschlaufe. Mein Hund ist dadurch gestresst, weil er es nicht gewohnt ist und er mit der Maulschlaufe auch nicht hecheln kann. Deswegen machen wir jetzt lieber Maulkorbtraining.
  • Der Hund eines Bekannten von mir ließ sich aufgrund von Schmerzen nicht anfassen und transportieren. In dieser eh schon äußerst stressigen Situation musste er ohne Eingewöhnung plötzlich einen Maulkorb akzeptieren. Deswegen üben wir jetzt lieber ein bisschen, für den Fall der Fälle.
  • Mein Hund ist ein kleiner Staubsauger. Wir machen gerade ein Anti-Giftköder-Training. Bis die Übungen gut sitzen, trägt er zur Sicherheit einen Maulkorb mit einem extra Steg vorne.
  • Bei meinem Hund ist ein bisschen Pitbull mit drin, deswegen muss er rein aus behördlichen Gründen einen Maulkorb tragen. Aber ich habe uns angemeldet für die Verhaltensprüfung. Bei Bestehen sind wir dann von der Maulkorbpflicht befreit.
  • Vielen Dank, dass Sie fragen! Mein Hund möchte keinen Kontakt mit fremden Artgenossen. Die gelbe Schleife hat uns nicht so viel gebracht, weil sie leider nicht sehr bekannt ist und auch übersehen wird. Wenn mein Hund den Maulkorb trägt, machen die anderen einen großen Bogen um uns und mein Hund hat nicht so viel Stress.

Es gibt also viele verschiedene Gründe, warum Hunde manchmal einen Maulkorb tragen.

Der Anblick ist nur für uns Menschen meistens unangenehm – der Hund selbst empfindet den Maulkorb nicht als schlimm, aversiv oder strafend. Vorausgesetzt natürlich, man baut die Gewöhnung in kleinen Schritten auf und verknüpft das Training mit positiven Dingen.

Wichtig ist, dass der Maulkorb gut sitzt und nirgends scheuert oder drückt.

Eine Polsterung auf dem Nasenrücken ist eine gute Option. Der Maulkorb sollte lang genug sein, damit er den empfindlichen Nasenspiegel nicht berührt, dabei aber auch nicht zu dicht an den Augen anliegt.

Er sollte tief genug sein, um hecheln und gähnen zu können. Hunde gähnen oft, um in einer schwierigen oder bedrohlichen Situation zu deeskalieren. Es ist also gerade in Begegnungssituationen sehr wichtig, dass Hunde auch mit Maulkorb die Möglichkeit haben, Beschwichtigungssignale zu kommunizieren.

Auch wenn man denkt, dass man nie einen Maulkorb brauchen wird, dass man eh nie mit der Bahn fährt und dass der eigene Hund niemals beißen würde, sollte man doch ein Maulkorbtraining in Erwägung ziehen. Unter Schmerzen, beispielsweise bei einer tierärztlichen Untersuchung, kann selbst der friedfertigste Hund aus einem Reflex heraus zubeißen. Oder unsere Lebensbedingungen können sich plötzlich ändern, wodurch unser Hund doch ab und zu einen Maulkorb tragen muss.

Falls Hunde über eine längere Zeit einen Maulkorb tragen müssen, ist eine Maßanfertigung empfehlenswert. Es gibt da mittlerweile tolle Shops im Internet, die dich persönlich beraten und dir auch bei der Bestellung des richtigen Maulkorbes mit den passenden Abmessungen helfen. Wenn du beim Gewöhnungstraining deinen Hund mit seinem neuen Maulkorb von der Seite betrachtest und denkst „Mensch, da passt ja noch eine zweite Schnute rein!“, dann ist er wahrscheinlich genau richtig. 😉

Falls du bei der Maulkorb-Gewöhnung Unterstützung oder Tipps benötigst, kannst du mich gerne kontaktieren! Gerade bei dieser Art von Training kann ich dich auch prima online beraten und dir bei den einzelnen Trainingsschritten helfen.

Wir kommen nochmal zurück auf unser nettes Gespräch mit dem Mensch-Hund-Team auf der Gassirunde. Natürlich kann es passieren, dass wir als Antwort Folgendes hören:

„Vielen Dank, dass Sie fragen! Ein bisschen mehr Abstand wäre super! Wir trainieren nämlich gerade an Bellos Furcht vor Menschen mit dunkler Kleidung. Er hat leider den Angriff für sich als Strategie gelernt, aber wir machen schon tolle Fortschritte!“

Wenn man über Maulkörbe schreibt, sollte man auch über das Thema Aggression sprechen. Das fällt uns Menschen oft schwer, besonders wenn es um unsere eigenen Hunde geht, und nicht selten wird es wie ein Tabu-Thema behandelt.

Sobald man ein schwieriges Thema etwas näher beleuchtet und dadurch besser versteht, verliert es ganz oft seinen lähmenden oder beschämenden Charakter. Wir können es als das sehen, was es ist. Wir können daran arbeiten und werden wieder handlungsfähig.

Was ist eigentlich Aggression?

Wenn wir von Aggression sprechen, geht es um Verhaltensmuster, die zur Verteidigung und Gewinnung von Ressourcen und zur Bewältigung potentiell gefährlicher Situationen dienen.

Aggressionsverhalten beinhaltet Kommunikation, wie z.B. sicheres oder unsicheres Drohen, und fängt also nicht erst beim Beißen an. Ein Infoblatt zur Eskalationsleiter von Hunden findest du am Ende dieses vorherigen Artikels als PDF zum Download.

Hier siehst du auch gleich eine Abgrenzung zum Jagdverhalten. Wenn dein Hund jagt, kommuniziert er nicht vorher mit seiner Beute. Er gibt ihr keine körpersprachlichen Warn- oder Drohsignale, was auch für den jagdlichen Erfolg nicht sehr vorteilhaft wäre. 😉

Aggressives Verhalten kann auch durch offensives Handeln gezeigt werden. Wir unterscheiden zwischen gehemmt offensiv (sich aneinander hochstellen, den anderen anrempeln oder runterdrücken, Schnauzenfechten, zustoßen mit offener Schnauze ohne zu beißen) und ungehemmt offensiv (Beißen, Beißen mit Festhalten, Beißschütteln).


Aggressives Verhalten hat eine Funktion und gehört zum ganz normalen Verhaltensrepertoire von Hunden. 


Aggression will beim Gegenüber Angst erzeugen und es dadurch verscheuchen. Verhalten Hunde sich in bestimmten Situationen aggressiv, bedeutet das nicht, dass sie verhaltensgestört sind. Hunde zeigen aggressives Verhalten auch nicht, weil sie Spaß daran haben, wie man manchmal leider liest oder hört. Es verbraucht viel Energie, in die Offensive zu gehen und man geht ein hohes Risiko ein, dabei verletzt oder gar getötet zu werden.

Aggressives Verhalten ist sehr abhängig von der jeweiligen Gemütslage. Das kennen wir auch von uns selbst. Haben wir schlimme Zahnschmerzen oder Kopfschmerzen, reagieren wir heftiger und pflaumen unsere Mitmenschen ungewollt an. Unsere Zündschnur ist dann einfach viel kürzer. Hunden geht es nicht anders. Schmerz ist ein enormer Stressor, welcher auch bei ihnen zu aggressiven Verhalten führen kann.

Auch chronische Schmerzen haben einen sehr großen Einfluss auf Verhalten. Sie verändern biochemische Reaktionen im Körper, wodurch Stresshormone ansteigen und der Serotoninspiegel sinkt.

Diese schmerzbedingten Veränderungen sind leider sehr oft die Ursache für vermehrtes Angst- oder Aggressionsverhalten.

Es ist nicht immer einfach zu erkennen, ob Hunde an chronischen Schmerzen leiden, selbst nach einer gründlichen tierärztlichen Untersuchung nicht. Wenn man sich nicht sicher ist, könnte man eine 3 bis 4-wöchige Schmerztherapie als Möglichkeit bei seiner Tierarztpraxis ansprechen, um zu kontrollieren, ob sich das Verhalten des Hundes dadurch positiv verändert.

Wichtig! Du weißt das sicherlich, aber man kann nicht häufig genug davor warnen, irgendwelche Tabletten aus der Humanmedizin in Eigenregie am Hund auszuprobieren! Ibuprofen und Paracetamol beispielsweise führen bei Hunden zu schweren Vergiftungen.

Daneben können Hunde in bestimmten Situationen durch Hormonveränderungen, Frustration, hohe Erregung oder zu viel Geschwindigkeit im Spiel in aggressives Verhalten kippen. Es gibt also viele Ursachen und Auslöser für aggressives Verhalten – und somit auch verschiedene Gründe für das Tragen eines Maulkorbes.

Aggression wird situativ gezeigt und nicht 24/7. Ein Hund kann draußen bei bestimmten Auslösern aggressiv reagieren, aber drinnen gemütlich mit seiner Familie samt kleinen Kindern auf dem Sofa kuscheln. Die Bezeichnung „aggressiver Hund“ oder die Aussage „Der Hund ist aggressiv“ sind nicht nur dem Hund gegenüber sehr unfair, sie bewirken zudem auch ein Schubladendenken, welches uns bei der Verhaltensanalyse und bei der Lösungsfindung im Weg steht.

Es ist wichtig herauszufinden, aus welcher Motivation heraus ein Hund in bestimmten Situationen zum Angriff übergeht. Für das Verhaltenstraining ist es äußerst hilfreich zu wissen, an welchen Emotionen wir arbeiten müssen, um somit auch die Motivation hinter dem Verhalten verändern zu können. Emotionen führen zu Motivation, und Motivation führt zu Verhalten.


Bei aggressiven Verhaltensweisen handelt es sich um erlernte Reaktionen, die sich schnell festigen können, wenn sie in der Vergangenheit zum Erfolg führten.


Wenn beispielsweise Flucht oder Deeskalation nicht möglich sind oder nicht zum Ziel führen, könnte jeder Hund aus Selbstverteidigung zum Angriff übergehen – auch, wenn wir denken „Mein Hund würde nie beißen!“

Haben Hunde gelernt, dass ihnen in bedrohlichen Situationen ein deeskalierendes Verhalten nie geholfen hat, ein Zubeißen jedoch jedes Gegenüber effizient auf Abstand halten konnte, dann besteht das Risiko, dass sie diese Strategie zukünftig sofort einsetzen und die ankündigenden Warnzeichen der Eskalationsleiter nicht mehr kommunizieren.

Das Wechseln von einem ultrakurzen Erstarren zu einem Angriff geht dann so schnell, dass man als Mensch unter Umständen nicht immer frühzeitig genug eingreifen kann. In solchen Fällen ist eine erhöhte Sicherheit durch das Tragen eines Maulkorbes unabdingbar.

Furry Fellows_keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme

Im Angebot eines seriösen Verhaltenscoachings wird man keine Über-Nacht-Lösung finden.

Aggressives Verhalten hat ganz unterschiedliche Ursachen und wird von vielen Dingen beeinflusst, wodurch die Bearbeitung und das Training komplex sind.

Man muss bedenken, dass ein Maulkorb zwar die Beißverletzung verhindert, er verhindert jedoch nicht den Angriff. Ein Maulkorb verändert auch nicht die Emotionslage des Hundes, die zu der Motivation für den Angriff führt.

Dies bedeutet, dass die Bezugsperson auch außerhalb des Coachings viel trainieren muss. Es geht um eine ganzheitliche Änderung, welche vor allem das körperliche und emotionale Wohlbefinden des Hundes adressiert und den ganz normalen Alltag mit einbezieht.

Der Maulkorb ist hierfür ein unverzichtbares Hilfsmittel. Er bietet Sicherheit und somit die Möglichkeit, dass der Hund in vielen verschiedenen Situationen erwünschtes Alternativverhalten erlernen kann. Gleichzeitig bietet er der Bezugsperson die nötige Sicherheit, um unverkrampft und so natürlich wie möglich mit dem Hund umzugehen. Sind wir Menschen angespannt und halten die Luft an, überträgt sich das sofort auch auf unsere Hunde.

So ein Training erfordert ein sehr gutes Leinenhandling, ein genaues Beobachten der Körpersprache seines Hundes, ein richtiges Einschätzen seines Umfeldes, vorausschauendes Handeln und ein gutes Timing. Ich finde, das verdient ein bisschen Verständnis und Anerkennung. 

Vielleicht hilft dieser Artikel ein wenig dabei, den ersten Impuls eines schiefen Blickes zu unterdrücken und stattdessen das bekorbte Team einfach freundlich zu grüßen. 😊

Aus welchem Grund auch immer ein Hund einen Maulkorb trägt, es ist ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein, nicht von Versagen.